Donnerstagvormittag, 11 Uhr: Mit Schweißperlen auf der Stirn und hektischen Blicken auf meine Uhr rase ich über die Theodor-Heuss Brücke in Heidelberg Richtung Theologische Fakultät. Ich habe
gar keine Zeit den sonnigen Blick auf das wunderschöne Schloss Heidelbergs, das den ganzen Stolz der Kurpfälzer und Tourismusbranche repräsentiert, zu genießen (...)
„Be calm and study theology!“
Donnerstagvormittag, 11 Uhr: Mit Schweißperlen auf der Stirn und hektischen Blicken auf meine Uhr rase ich über die Theodor-Heuss Brücke in Heidelberg Richtung Theologische
Fakultät. Ich habe gar keine Zeit den sonnigen Blick auf das wunderschöne Schloss Heidelbergs, das den ganzen Stolz der Kurpfälzer und Tourismusbranche repräsentiert, zu
genießen.
Stattdessen frage ich mit pochendem Puls, ob ich es noch rechtzeitig zum Seminar „Digitalisierung in der Kirche und Gesellschaft“ bei Professor Tanner schaffe. Zum Glück gibt es den c.t.
Puffer (von 15 Minuten) für die „kreative“ oder besser gesagt waghalsige Zeitplanung der Studenten. 11:14 Uhr: Ich husche noch eben mit meinem Professor in das Seminar rein. Puuuh,
geschafft! Das war mal wieder eine NASA-gleiche Punktlandung. Auch wenn ich jetzt lieber nach der gehetzten Fahrt und dem doch etwas länger dauernden Bier-Abend gestern schon wieder eine
zweite Dusche vertragen könnte, startet der Professor nach einer zähen Präsenzabfrage gleich mit dem zu lesenden Text über den „Überwachungskapitalismus“ von der berühmten Harvard
Professorin Shoshana Zuboff. Professor Tanner gibt wieder seine beliebte ironische Bemerkung ab: „Ich gehe natürlich davon aus, dass Sie alle die letzten zwei Kapitel intensiv gelesen
haben.“ Das übliche verlegene Lächeln der Studierenden ist wieder offensichtlich. 100 Seiten innerhalb einer Woche sind für einen Professor selbstverständlich das routinierte
Standardprogramm, wenn da nicht für uns Studierende das zeitliche Jonglieren mit den Bällen unseres Alltages wäre: Uni-Veranstaltungen, Hilfskraftjob am Lehrstuhl, der Sportkurs im
Fitnessstudio, Events der Kirchengemeinde, der freiwillige Sprachkurs Arabisch, der Wochenendtrip zur WG-Party nach Berlin und ach ja, nicht zu vergessen, das Date mit Lisa, die ich
gestern am Neckar kennengelernt habe. Meine Gedanken kreisen um den passenden Spot für unser erstes Date, da tönt die Stimme von Herrn Tanner auf: „Herr Freitag, was denken Sie zu der
These von Frau Zuboff, dass an die Stelle der Massenproduktion heute die massenhafte Sammlung von Daten getreten sei, was unter dem Begriff Big Data gefasst wird? Welche Konsequenzen hat
dies für unsere Lebenswelt, welche theologischen Bedenken oder Antworten sehen Sie darauf?“ Mist jetzt hat der Professor mich zielsicher in meinem Daydream erwischt… Hektisch schlage ich
in meinen Unterlagen zwischen den Seiten hin und her. Und tatsächlich auf Seite 136 finde ich sogar meine markierten Passagen und krakligen Bleistift-Notizen am Rand. Boah bin ich
glücklich, dass ich gestern auf heißen Reifen diesen Text vor dem Neckarabend doch noch gelesen habe. Mit Erleichterung antworte ich Professor Tanner, dass trotz der ungeheuren
Wissensansammlung durch das „Ausschlachten privater Daten“ keines unserer existentiellen Probleme gelöst werde, was Zuboff als „gigantisches Marktversagen“ betrachtet. Und fahre fort,
dass man diese Diskrepanz zwischen den menschlichen Sehnsüchten und Ängsten und der technologischen Entwicklung schon in den aktuellen soziologischen Theorien von Hartmut Rosa mit den
Begriffen „Unverfügbarkeit und Resonanz“ erkennen kann. Anstatt Lebensqualität in der Währung von Ressourcen, Karriereoptionen und Insta-Likes zu messen, müssen wir unseren Blick auf die
Beziehung zur Welt und unseren Mitmenschen richten, die dieses Leben prägt. Dass diese Beziehung immer häufiger gestört ist, hat viel mit der Steigerungslogik der Moderne zu tun. Aus
dieser immer schneller werdenden Welt können uns „digital natives“ die zeitlosen und berührenden Gleichnisse Jesu befreien, weil sie damals wie heute der Gesellschaftslogik den göttlichen
Spiegel vorhalten.
Ok! Enough holy stuff, Daniel! Mit diesem alltäglichen Einstieg möchte ich euch Theologie-Interessierte einen authentischen Einblick in die studentische Lebenswelt, aber auch in die
tiefgehende theologische Sprache und Wirklichkeit in den Seminaren geben. Nach nun mehr 12 Fachsemestern „Evangelische Theologie“ schaue ich schon fast nostalgisch auf meinen langen
Theologie-Weg zurück. Ich weiß noch ganz genau, wie ich freudig aufgeregt in der O-Woche im Fachschaftszimmer in Münster saß, um für die Fakultätsführung abgeholt zu werden und wie ich
dann bei meinem allerersten Uni-Kurs statt gleich verkrampft hebräische Wörter zu stammeln, hebräische Lieder zum lockeren Warmwerden für das anstehende Hebräisch-Pauken gesungen habe.
Eines weiß ich nach diesen vielen Semester ganz bestimmt, ich bin nicht mehr der gleiche, sondern der Weg im Studium hat meine Persönlichkeit, meinen Glauben, aber auch den Blick auf die
Geschichte und die Welt verändert. Natürlich haben manche Veränderungen Zeit gebraucht und waren mitunter nur schwierig zu verarbeiten, aber heute stehe ich in meinem letzten Semester vor
meinem 1. Theologischen Examen und kann mit einem umfassenderen Blick auf das Christentum und meine Kirche sagen, die Entscheidung für Theologie war mit dem Songtitel von ACDC kein
Highway to Hell. Auch wenn manche Sprachkurs-Stunden in Griechisch und Hebräisch sich mehr nach der Flucht vorm ägyptischen Pharao anfühlten und gewisse dogmatischen Höhenflüge aus der
Alten Kirche einem mehr nach dem „second try“ des Turmbau zu Babel vorkamen, so bin ich nach wie vor von der Bandbreite des Studiums begeistert. Das Evangelische
Theologie-Studium besteht neben der drei Einstiegssprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch) meistens aus sechs Modulen, in denen man ganz frei seine Vorlesungen und Seminare belegt: Altes
Testament, Neues Testament, Systematik (Dogmatik und Ethik) inklusive Philosophie, Kirchengeschichte, Praktische Theologie und Religionswissenschaft/Interkulturelle Theologie. Wir
Theologie-Studierenden besitzen im Vergleich zu den vielen verschulten und streng getakteten Fächern an der Universität eine große Freiheit, unsere thematische Interessen bei der Wahl von
Kursen und Vorlesungen zu berücksichtigen. Natürlich müssen wir auch in gewissen Fristen unsere Leistungspunkte, Hausarbeiten, Sprachprüfungen oder Bibelkundeprüfungen etc. ablegen, aber
bei vielen WG-Partys habe ich gemerkt, dass mich viele Studierende um meine Freiheit sehr beneiden. Als Evangelischer Theologie-Student kann ich eigenen Fragen zum Sinn des Lebens, zu
Gesellschaftsfragen, zur Botschaft Jesu und den ersten Christen, zu dramatischen Kapiteln in meiner Landes- und Kirchengeschichte, zur spirituellen Erfahrung in unterschiedlichen
Religionen je nach Zeit und Muse nachgehen. Unsere theologischen Fächer haben viele Überschneidungen zu anderen Geisteswissenschaften, so dass man manchmal auch in interdisziplinären
Seminaren mit Studierenden der Islamische Theologie oder der Psychologie zusammenarbeiten kann. Viele Fächer haben sich im Zuge der Verwissenschaftlichung sehr vernetzt und sind
heutzutage zu einem anerkannten wissenschaftlichen Partner in Diskussionen und Aufsätzen geworden:
- Das Alte und Neue Testament besitzt z.B. Überschneidungen mit der Archäologie, Philologie, Literaturwissenschaft, Ägyptologie und man kann spannende
Ausgrabungsexkursionen in das Heilige Land oder nach Griechenland auf den Spuren der ersten christlichen Gemeinden und den paulinischen Missionsreisen machen.
- Das Systematik Modul steht in Kontakt zur Philosophie und den Naturwissenschaften über die brennende Frage der Vermittlung zwischen Glaube und Wissen oder Biologie
und Schöpfung. Daneben steht das Fach Ethik im Austausch mit der Medizin z.B. über Stammzellenforschung und Grenzen der Hochleistungsmedizin gegenüber Möglichkeiten des Sterben-Könnens
oder mit der Politikwissenschaft über Friedensethik, gesellschaftliche Wertediskussionen und Wirtschaftsmodelle.
- Die Kirchengeschichte besitzt selbstredend Verbindungen zur Geschichtswissenschaft, Jura oder z.B. im Fach Germanistik über die Auswirkungen der Bibelübersetzung
Luthers auf die Deutsche Sprache.
- Die Praktische Theologie besitzt nach der empirischen Wende einen lebhaften Austausch mit der Psychologie über die Seelsorgelehren, mit der Kommunikationswissenschaft
über Gesprächsreflexionen im Pfarramt, mit der Theaterwissenschaft und Kirchenmusik über die Liturgik und Gestaltung von Ritualen im Gottesdienst, mit der Pädagogik über eine gelungene
Didaktik im Konfirmanden- und Religionsunterricht, mit der Soziologie über die Gesellschaftsentwicklungen und den Stand der Religion im 21. Jahrhundert.
- Im Modul der Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie könnt ihr in einigen Seminaren und Vorlesungen den Austausch mit Ethnologen, Islamischen Theologen,
Kulturwissenschaftlern oder Anthropologen wagen, über die Wechselwirkungen der globalisierten Religionen oder die Veränderungen der Religion durch die jeweiligen Herrschersysteme und den
kulturellen Zeitgeist. Ihr könnt sehen, es ist quasi unmöglich, dass ein Theologie-Studierender nicht einen Fachbereich findet, wo er seinen Wissenshunger austoben kann. Wenn man nach
einem Semester mit vielen Veranstaltungen zum Alten Testament und Kirchengeschichte eine Verschnaufpause braucht, ist es ein Leichtes im nächsten Semester in anderen Modulen seine Welt-
und Glaubensbeziehung zu vertiefen.
Am Ende des Studiums habt ihr einige Hausarbeiten und bürokratische Hürdenläufe hinter euch, aber ihr habt trotz der nötigen WG-Partys bis zu den Lila Wolken oder den ersten tiefen
Beziehungs-Troubles einen schärferen Blick auf eure Kirche, die lange Christentumsgeschichte, philosophische Sinnfragen, die tiefen Schätze und Herausforderungen in den biblischen Kapiteln,
ethische Dilemmata in technologischen Entwicklungen, die Möglichkeiten und Grenzen der Religionsausübung in einer digitalisierten und globalisierten Gesellschaft. Ihr werdet ein christlicher
Universalgelehrter (jedenfalls wünschen sich das die Professoren), der sich mutig in gesellschaftliche Debatten einbringen kann, um das Evangelium Christi gegenwartsbezogen auszulegen und
Neugier für den lebenslangen Weg des Glaubens zu wecken.
Seid mutig und lasst euch auf den weiten Ozean der theologischen Welt ein, auf dem ihr nie alleine im Boot sitzen werdet, sondern immer wieder mit wahnsinnig spannenden Persönlichkeiten
die Segel hissen könnt und so selbst bei hohem Wellengang Freundschaften fürs Leben schließen werdet!
Mein Fazit: „Be calm and study theology!“
Daniel Freitag, Heidelberg